Sich klarwerden – Wissen Sie wer Sie sind?
Sich klarwerden – Jorge Bucay (Bucay, 2018)
Ich stehe morgens auf.
Und gehe aus dem Haus.
Auf dem Bürgersteig ist ein sehr tiefes Schlagloch.
Ich sehe es nicht und falle hinein.
Am nächsten Tag gehe ich aus dem Haus,
vergesse das Schlagloch auf dem Bürgersteig und falle wieder hinein.
Am dritten Tag
gehe ich aus dem Haus und versuche an das Schlagloch auf dem Bürgersteig zu denken.
Doch ich erinnere mich nicht daran und falle hinein.
Am vierten Tag
gehe ich aus dem Haus und versuche an das Schlagloch auf dem Bürgersteig zu denken.
Ich denke daran, übersehe es jedoch trotzdem und falle hinein.
Am fünften Tag
gehe ich aus dem Haus.
Ich denke daran, mich vor dem Schlagloch auf dem Bürgersteig hüten zu müssen,
und hefte meinen Blick auf den Boden.
Ich sehe es und falle trotzdem hinein.
Am sechsten Tag gehe ich aus dem Haus.
Ich denke an das Schlagloch im Bürgersteig.
Ich halte danach Ausschau.
Ich sehe es,
versuche darüber zu springen,
aber falle hinein.
Am siebten Tag
gehe ich aus dem Haus und sehe das Schlagloch.
Ich nehme Anlauf,
springe,
berühre mit der Fußspitze knapp die andere Seite,
aber eben nur knapp, und falle hinein.
Am achten Tag gehe ich aus dem Haus,
sehe das Schlagloch,
nehme Anlauf,
springe
und erreiche die andere Seite!
Vor lauter Stolz, es geschafft zu haben,
mache ich Freudensprünge
und falle wieder ins Loch.
Am neunten Tag
gehe ich aus dem Haus,
sehe das Schlagloch,
nehme Anlauf,
überspringe es
und setzte meinen Weg fort.
Am zehnten Tag,
nämlich heute,
wird mir klar,
dass es viel einfacher wäre…
auf der anderen Straßenseite
zu gehen.
Dieses Gedicht von Jorge Bucay zählt zu unseren Lieblingen, zeigt es doch so eindrücklich, wie oft wir im Prozess des sich Klarwerdens Schleifen ziehen müssen bis wir endlich die Erkenntnis finden, die wir umsetzen. Wir nutzen den Text auch gerne, um Coachees dazu zu motivieren, mit sich selbst geduldig zu sein. Innere Prozesse dauern ihre Zeit und manchmal müssen wir die gleichen Situationen mit anderen Konstellationen mehrfach durchspielen bis wir nicht mehr in dasselbe Schlagloch stolpern. In diesem Buch geben wir Ihnen viele Anregungen, damit Sie sich klarer sehen und damit schon früher die andere Straßenseite als Option wahrnehmen. Je besser Sie wissen, wer Sie sind und wer nicht, desto besser treffen Sie Entscheidungen für Ihr Leben. Im Heute müssen Sie schnell und flexibel sein, wenn Sie dranbleiben wollen. Wir möchten Ihnen fünf Gedanken mit auf den Weg geben, wenn Sie sich gewahr werden wollen:
- Wissen Sie, wer Sie sind und wer nicht. Eine gute Selbsteinschätzung und regelmäßige Selbstreflexion gehören zum Pflichtprogramm erfolgreicher Menschen. Wenn Sie Ihre Achillesverse kennen und auf der anderen Seite Ihre Schlüsselressource, agieren Sie selbstsicherer und -bewusster.
- Wissen Sie, wer die anderen sind. Seien Sie wachsam, wenn es um Ihr Team geht. Und noch mehr, wenn es darum geht, wer da im Schatten Interesse an Ihnen zeigt. «Schau, trau, wem» nennen wir das in unserer Arbeit. Also zuerst wahrnehmen, wer hat Einfluss auf mich? Wen kann ich oder muss ich beeinflussen? Um dann herauszufinden, wem Sie in welcher Weise vertrauen können.
- Wissen Sie, wo Ihre Grenzen sind. Damit meinen wir nicht nur, was Sie bereit sind zu tun oder nicht zu tun für Ihre Karriere, sondern auch wo die Grenzen Ihrer Fähigkeiten liegen. Versuchen Sie ehrlich mit sich selbst abzustecken, welche Bereiche Sie vielleicht mittelmäßig erlernen können aber nie so gut umsetzen können wie die Bereiche, in denen Ihre Talente und Stärken liegen. Es liegt eine große innere Freiheit darin, nicht alles sein zu müssen und Angebote abzulehnen, die nicht Ihren Fähigkeiten entsprechen.
- Wissen Sie, warum Sie ein Erfolgsversprechen sind. Je höher Sie auf der Karriereleiter steigen, desto mehr sieht man Sie als Erfolgsversprechen. Die angesprochenen Erwartungen nehmen zu. Was können Sie so gut, dass man sich für Sie entschieden hat? Was müssen Sie wirklich erreichen, um erfolgreich zu sein? Meistens sollen Sie eine Lücke füllen oder ein Problem aus der Welt schaffen. Wenn Sie das wissen können Sie in Eigenmacht gehen. Sie erkennen, welche Dinge man als erstes von Ihnen erwarten wird, was für Sie bedeutet, schnelle Erfolge zielgerichtet liefern zu können.
- Kennen Sie Ihre Kernverletzungen. Wir kennen keinen Menschen ohne Kernverletzungen. Es mag sie geben, sie sind uns noch nicht begegnet. Kernverletzungen sind ein wenig wie offene Narben in die wir selbst aber auch andere immer wieder Salz streuen. «Ich bin nicht gut genug.» «Ich bin nicht liebenswert.» «Ich bin ein Nichtsnutz.» «Ich muss alles alleine machen.» sind nur ein einige Beispiele. Um diese Blessur nicht spüren zu müssen, unternehmen wir einiges (z.B. in dem wir Unsicherheit überkompensieren) und kommen dennoch immer wieder daran vorbei. Stellen Sie sich Ihr Leben wie eine Wendeltreppe vor und ihre Kernverletzungen hängen an den Wänden wie mittelalterliche Wandteppiche über mehrere Stockwerke. Sie werden jedes Mal, wenn Sie eine Etage weiter sind, wieder daran vorbeikommen. Das ist vollkommen normal. Nur gehen Sie idealerweise nach oben und sehen den Wandteppich immer aus einer neuen Perspektive. Wenn Ihre Wandteppiche Ihnen vertraut sind und Sie wissen, wie Sie damit in Situationen emotionaler Flutung umgehen, sind Sie deutlich weniger manipulier- und angreifbar. Man kann Sie dann zum Beispiel mit Lob und Anerkennung nicht mehr dazu bringen, wie die Duracellhasen aus der Werbung bis zum Umfallen weiter zu trommeln.